Wer möchte nicht durch das Venedig der Renaissance spazieren, gefahrlos auf den Gipfel des Matterhorns klettern oder Auge in Auge einem Dinosaurier gegenüberstehen? All dies ist heute dank virtueller Realität (VR) möglich. Über diverse Berufsfelder und den Freizeitbereich hinaus beginnt die Technologie langsam im Unterricht Fuss zu fassen, etwa zum Eintauchen in fremde Welten oder zum Einüben von komplexen Handlungen – mit Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality, Extended Reality. Doch der Reihe nach …
In Kürze zum Hören
Vielfältige Technologien und Anwendungen
Um Virtual Reality (VR) zu erleben, setzt sich die Person eine das Blickfeld vollständig verdeckende Brille mit integrierten stereoskopischen Bildschirmen auf und taucht in eine simulierte Umgebung ein. Beispielsweise können Schüler:innen im Geschichtsunterricht mithilfe einer VR-Anwendung eine digitale Rekonstruktion des alten Ägypten und die Pyramiden von Gizeh besuchen. VR ermöglicht auch eine Immersion in 360°-Videos, die eine Rundumsicht bieten.
Die verwandte Technologie Augmented Reality (AR) blendet digitale Inhalte nahtlos in die reale Welt ein. Dies erlaubt beispielsweise eine simulierte Raumgestaltung, indem man im eigenen Wohnzimmer Möbel virtuell platziert. In der Chirurgie wird die AR-Brille eingesetzt und blendet der Ärztin während einer Operation wichtige Vitaldaten des Patienten ein. Mixed Reality (MR) lässt reale und virtuelle Welten verschmelzen, so dass digitale und physische Objekte scheinbar und in Echtzeit im medienvermittelten Raum koexistieren, zum Beispiel wenn ein virtueller Ball von einer realen Wand abprallt.
Der Oberbegriff Extended Reality (XR) umfasst alle immersiven Technologien, die reale und virtuelle Umgebungen kombinieren, darunter VR, AR und MR (1). «Spatial Computing»-Konzepte (2) ebnen den Weg für eine neue Art der computergestützten Interaktion, die unsere Arbeits- und Freizeitgestaltung in Zukunft grundlegend beeinflussen könnte. Im Gegensatz zu herkömmlichen Anwendungen auf Computern, Tablets oder Smartphones fügt XR dem Erleben eine neue Dimension hinzu: den virtuellen dreidimensionalen Raum. Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten, bringt aber auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich.
VR im Unterricht
Ein exemplarisches Beispiel für den Einsatz von VR im Unterricht ist eine von der FernUni Schweiz und den PHs FHNW und Bern entwickelte VR-App. Diese ermöglicht Lernenden, den Wasserkreislauf zu erforschen. Mit der VR-Brille können sie molekulare Prozesse wie Verdunstung und Wolkenbildung erleben und interaktiv verstehen. Erste Studien zeigen, dass Schüler:innen, die mit der VR-Brille lernen, einen grösseren Lernzuwachs haben als jene, die dieselbe Umgebung auf einem Laptop nutzen. (3)
Erste Studien zeigen, dass Schüler:innen, die mit der VR-Brille lernen, einen grösseren Lernzuwachs haben als jene, die dieselbe Umgebung auf einem Laptop nutzen.
Auch populäre VR-Apps wie Beat Saber (4) verdeutlichen das Potenzial von VR, Lernprozesse zu unterstützen. Beat Saber, ein rhythmusbasiertes Spiel, fördert Reaktionsfähigkeit und Koordination, was auf spielerische Weise auch im Bildungsbereich genutzt werden kann. Solche Anwendungen illustrieren, wie VR-Technologien nicht nur im naturwissenschaftlichen Unterricht, sondern in vielen weiteren Bereichen des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung eingesetzt werden könnten.
VR in der berufspraktischen Ausbildung
In der berufspraktischen Ausbildung von Lehrpersonen spielen Videos eine wichtige Rolle. Klassische Videos zeigen jedoch oft nur einen begrenzten Ausschnitt des Unterrichtsgeschehens. Hier kommen immersive 360°-Videos ins Spiel, die mit VR-Headsets eine vollständige Rundumsicht bieten. Diese Technologie ermöglicht angehenden Lehrpersonen, sich intensiver mit der Unterrichtssituation auseinanderzusetzen, indem beispielsweise die Schüler:innen und deren Interaktionen besser wahrgenommen werden. Ein Projekt der PH Zürich untersucht derzeit, wie sich 360°-Videos in die Lehrpersonenausbildung integrieren lassen, um die didaktischen Vorteile zu maximieren und technische Hürden zu überwinden. (5)
Wie funktioniert VR?
Zugang zu Virtual-Reality-Erfahrungen erhält man durch VR-Brillen. Diese verfügen über hochauflösende Bildschirme, die für jedes Auge separate Bilder erzeugen. Durch Stereoskopie und den weiten Sichtwinkel entsteht der Eindruck einer dreidimensionalen Welt. Sensoren erfassen Kopfbewegungen, Blickrichtung und Mimik, um die Wahrnehmungsperspektive in Echtzeit anzupassen. Geräusche werden für das linke und rechte Ohr separat (binaural) eingespielt und tragen zum immersiven Raumerlebnis bei.
VR-Brillen verfügen über hochauflösende Bildschirme, die durch Stereoskopie den Eindruck einer dreidimensionalen Welt vermitteln.
Doch wie bewegt man sich in einer virtuellen Umgebung? Statt Tastatur und Maus können Hände, Körperbewegungen und VR-Controller eingesetzt werden, die haptisches Feedback erzeugen. Sprachsteuerung, Blickerfassung und Gesten dienen der natürlichen Interaktion. Modernste Brillen wie die Apple Vision Pro kommen ganz ohne Controller aus, da man über Blicke und Fingergesten interagiert.
Die vollständige Immersion in eine virtuelle Realität stellt unser Gehirn vor grosse Herausforderungen. Das Gehirn ist darauf ausgelegt, die reale Welt zu verarbeiten, in der Objekte eine feste Grösse, Position und Beschaffenheit haben. In der VR-Welt können sich Objekteigenschaften unvermittelt ändern und die Bewegung kann zu Desorientierung und Übelkeit führen. Wir können uns in virtuellen Welten rasant und glaubwürdig bewegen und gleichzeitig vermeldet unser Gleichgewichtssinn, dass wir vollkommen ruhig dastehen, wodurch VR-Anfänger:innen ähnlich wie bei Seekrankheit schwindlig oder gar übel werden kann. Obwohl die Technologie sich stetig verbessert hat, sind VR-Brillen aufgrund solcher Effekte noch keine Computer-Plattform für stundenlangen Einsatz.
Aktuelle VR-Brillen und Software
Der Markt für VR-Brillen hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und bietet heute eine Vielzahl von Möglichkeiten für den Einsatz im Unterricht und in der Weiterbildung. Für interessierte Lehrpersonen ist es wichtig, sich einen Überblick über die verfügbaren Geräte und deren Vor- und Nachteile zu verschaffen, um tragbare Entscheidungen für den Einsatz im Unterricht zu treffen.
Einer der führenden Anbieter ist Meta (Facebook) mit der Quest-Brille. Die drahtlose Quest 3 verfügt über eine gute Grafikleistung und ein breites Angebot an Lerninhalten, ist aber aufgrund des geschlossenen Systems, einem Fokus auf Spiele und der bei Meta immer zu berücksichtigenden Datenschutzproblematik nicht ohne Weiteres für den Einsatz in der Schule zu empfehlen. Sony setzt mit seiner PlayStation VR 2 auf eine enge Verzahnung mit der Spielkonsole, was die Einstiegshürde für Schulen erhöht. Die Brille ist technisch ausgereift, aber eher für den Gaming-Bereich von Interesse.
Eine Alternative für den schulischen Einsatz wären Modelle von HTC. Die HTC-Vive-Headsets bieten eine hohe Auflösung und eignen sich für detailreiche Simulationen. Das kabellose HTC Vive Focus 3 ist mobil einfacher einsetzbar, was mit einem deutlich höheren Preis verbunden ist. Neu in den VR-Markt eingestiegen ist in diesem Jahr Apple mit der «Spatial Computing»-Brille Vision Pro. Die Vision Pro verfügt über eine im Vergleich zur Konkurrenz deutlich weiterentwickelte Technologie, ist aber preislich mit dem aktuellen Pro-Modell klar im Premium-Segment angesiedelt.
Wie es weitergehen könnte
XR-Technologien sind Teil einer kontinuierlichen Entwicklung in der Medienwelt, die auf eine zunehmende Verschmelzung von virtuellen und realen Elementen in unserer Wahrnehmung hinausläuft. Der Prozess, Medieninhalte noch intensiver erlebbar zu machen, hält seit Anbeginn der Mediengeschichte an. Die XR-Technologien drehen die Entwicklungsspirale einen (beeindruckenden) Schritt weiter. In der VR-Welt können die Nutzer:innen selbst Teil der Handlung werden, Entscheidungen treffen und die Konsequenzen unmittelbar erleben – eine immersive Erfahrung, die über das Betrachten traditioneller Filme weit hinausgeht.
Aus pädagogischer Sicht stellt sich die Frage, wie weit Virtual Reality authentische Erfahrungen in der realen Welt ergänzen oder gar ersetzen kann und inwiefern diese Technologien entscheidende Vorteile gegenüber etablierten Lernmedien bringen, beispielsweise gegenüber der Computerinteraktion oder dem Lehrfilm. XR-Technologien haben zweifellos didaktisches Potenzial, doch der Zugang dazu scheint durch aufwendige und teure Technik sowie organisatorische Herausforderungen teilweise noch versperrt zu sein. Denn diese Technologien benötigen viel Platz und eine störungsfreie Umgebung, in der sich die Nutzer:innen frei bewegen können, was im Schulkontext nicht ohne Weiteres möglich ist.
Aus pädagogischer Sicht stellt sich die Frage, ob Virtual Reality authentische Erfahrungen ergänzen oder gar ersetzen kann.
Die Arbeitswelt könnte sich durch Extended Reality verändern. Wenn eine Person mit einer Spatial-Computing-Brille die gesamte Arbeitsumgebung inklusive grossem Bildschirm überall hin mitnehmen kann (z.B. in den Zug), wird mobiles Arbeiten noch einfacher. Dies bringt aber auch Nachteile bezüglich der Abgrenzung von Arbeit und Privatleben mit sich. Es wird noch einige Jahre dauern, bis weitere Entwicklungen der XR-Technologien erfolgt sind, umfassende Studien vorliegen und belastbare Antworten auf offene Fragen gefunden werden. Bis dahin lohnt es sich, die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen und aktiv mitzugestalten.
Autoren: David Gavin & Tobias M. Schifferle (PHZH)
26.08.2024
Zur Vertiefung
- Beispiele von XR, VR, AR, XR:
hyve.net/de/blog/all-about-virtual-reality - «Spatial Computing» bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, die reale Umgebung zu erfassen, zu interpretieren und digitale Inhalte nahtlos mit ihr zu verschmelzen. Durch Sensoren und Algorithmen können virtuelle Objekte scheinbar im physischen Raum platziert und manipuliert werden. Die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt werden verwischt und erlauben immersive Interaktionen mit digitalen Inhalten.
- VR-Unterrichtseinheit zum Wasserkreislauf / Der Nutzen von Virtueller Realität im naturwissenschaftlichen Unterricht, FernUni Schweiz
- Beat Saber ist ein populäres VR-Rhythmus-Spiel, bei dem Spieler: innen Lichtschwerter benutzen, um farblich codierte Blöcke im Takt zur Musik zu zerschlagen
- Martin Berger und Tobias M. Schifferle (2024) VR-Innovationen in der berufspraktischen Ausbildung.
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